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Konstruierte Wirklichkeit und wirkliche Wirklichkeit in der systemisch-therapeutischen Praxis

Es geht mir in diesem Beitrag um konstruierte Wirklichkeit und wirkliche Wirklichkeit in Bezug zu meiner systemisch-therapeutischen Praxis und die Bedeutung für praktische therapeutische Interventionen.

Was mir zur Wirklichkeit wird, ist die Wirklichkeit, die ich mir konstruiere, weil ich sie mir konstruieren muss, sonst gäbe es keine. Ich nehme die Wirklichkeit immer subjektiv mit meinen Augen, meinen Ohren, meinen Gefühlen wahr und niemals objektiv. Meine Gedanken sind meine Gedanken und nichts, was außerhalb meiner selbst existiert.

So wie für mich Wirklichkeit ist, ist es immer das, was ich zur Wirklichkeit mache bzw., wenn ich auf Erziehung und Prägung schaue, gemacht bekommen habe. Und selbst letzteres konstruiere ich als Teil meiner Wirklichkeit.

Meiner Wirklichkeit, der von mir konstruierten Wirklichkeit, steht die wirkliche Wirklichkeit gegenüber und zugleich bin ich mit der von mir konstruierten Wirklichkeit Teil der wirklichen Wirklichkeit.

Diese theoretische Betrachtung von Wirklichkeit wirkt sich direkt auf mein systemisch-therapeutisches Handeln aus. Das heißt ich weiß, dass jede oder jeder seine eigene, für sie bzw. für ihn bindende Wirklichkeit hat. Das gilt natürlich auch für mich als Therapeut. Außerdem haben alle Menschen außerhalb der konkreten Therapie auch ihre Wirklichkeit. Alleine das zu wissen und zu akzeptieren ist ein öffnender Schrift für den therapeutischen Prozess. Es bedeutet auch sich zu vergewissern über das, worüber gesprochen wird. Worte wie „Liebe“, „Partnerschaft“, „Respekt“, „Mutter“, „Vater“ usw. sind nicht unbedingt deckungsgleich zwischen unterschiedlichen Personen. Z.B.: „Was bedeutet es für Sie, Mutter zu sein?“ „Was macht Ihren Vater zum „Vater“ und nicht nur zum biologischen Vater?“ „Was würde er zu meiner Frage sagen?“ „Was beutet für Sie Vatersein in der heutigen Zeit?“ So geschieht eine verändernde Annäherung. Meine Wirklichkeit wird von mir, wenn ich darüber spreche, zu einer mir zugleich gegenüberstehenden Wirklichkeit, die mich so anfragt und ggf. meine Wirklichkeit verändert oder umgekehrt.

Meine Erfahrung aus der Paartherapie bzw. –beratung ist, dass dadurch, dass die Paare erkennen, dass die Partnerin oder der Partner etwas anderes meint als sie oder er versteht, das Kommunikativeverwirrspiel sich aufzulösen beginnt. Zugleich wird deutlich, ob ich bereit bin den anderen mit seiner je anderen Wirklichkeitskonstuktion zu akzeptieren. Wo sind die Unterschiede und wo ist das Gemeinsame in den Wirklichkeiten? Und wie gelingt es uns das zu leben oder auch nicht.

Methodisch wäre in der Therapie z.B. eine Möglichkeit, dass die Klientin bzw. der Klient aufschreibt „Liebe ist …“ und dann diesen Satz vervollständigt aus ihrer bzw. seiner Sicht. Dann aus der Sicht der Partnerin bzw. des Partners, der Eltern, des Seitensprungs, „der“ Gesellschaft usw. Oder auch „Liebe ist …“ aus meiner erwachsenen Sicht heute, meiner Sicht als Kind, als Jugendlicher, in Zukunft. Alleine das Aufschreiben erweitert die Möglichkeiten und die Selbstreflexion der Klientin bzw. des Klienten. Im Anschluss können die unterschiedlichen Sätze in Beziehung gesetzt werden. „Hat sich etwas verändert?“ „Was hat sich verändert?“ Wenn ein anderes Wort als „Liebe“ zentraler oder aktueller ist, würde ich natürlich dieses wählen oder es mit den Klienten auswählen.

Unreflektiert gehe ich möglicherweise davon aus, dass meine Wirklichkeit eben nicht konstruiert ist, sondern die wirkliche Wirklichkeit ist. In der Kommunikation stoße ich dann vielleicht auf die Feststellung, dass nun meine Wirklichkeit nicht mit der Wirklichkeit eines anderen übereinstimmt. Das heißt Wirklichkeit ist vielfältig und subjektiv. Aber gibt es auch eine „objektive“ Wirklichkeit, die für alle gleichermaßen gilt und nicht abhängig von einem Subjekt ist? Oder ist die wirkliche Wirklichkeit auch ein Konstrukt? Für mich ist es hier an dieser Stelle, wo es um die therapeutische Praxis geht, nur wichtig, dass es m.E. die Möglichkeit einer wirklichen Wirklichkeit gibt. Hier geht es nicht um die philosophische oder erkenntnistheoretische Frage nach Wirklichkeit.

Im therapeutischen Prozess weitet diese Möglichkeit den Blick. Schau ich aus meiner Wirklichkeit auf eine vielleicht mögliche nicht-konstruierte Wirklichkeit, so weitet sich mein Blick. Es könnte seine, dass meine Sichtweise nicht die einzige ist, die nicht durch die Sichtweise eines anderen geöffnet wird, sondern durch die Frage nach einer wirklichen Wirklichkeit. So vermeide ich die Frage: „Wer hat Recht?“ Und es könnte eine größere Bereitschaft entstehen, eine andere Sichtweise zuzulassen oder gar einzunehmen.

Um bei dem obigen Beispiel der Paartherapie zu bleiben, würde der Satz nicht beginnen „Liebe ist (für mich usw.) …“ sondern „Liebe ist …“ ohne eine konkrete Person. „Was bedeutet denn „Liebe“ wirklich?“ oder „Gibt es eine allgemeingültige Definition/Bedeutung von „Liebe“?“ Zirkulär fragend könnte ich die Frage wieder anderen anwesenden oder nicht anwesenden Personen stellen. Hier ist das Angebot einer zusätzlichen Erweiterung der Möglichkeiten der Klientin bzw. des Klienten oder in der Paartherapie für beide.

Eine andere Frage ist „Wenn es die Möglichkeit einer wirklichen Wirklichkeit gibt, gibt es dann auch eine gemeinsame Wirklichkeit für Sie als Paar?“ Können Menschen ihre Wirklichkeiten aufeinander hin konstruieren? Für den therapeutischen Prozess ist es nicht entscheidend, ob das wirklich möglich ist, sondern ob jemand bereit ist, sich auf diesen Weg zu machen und so eine weitere Sichtweise für sich zulässt. In der Praxis könnte das Beschriebene als Hypothese formuliert werden: „Es könnte sein, dass Sie in der Lage sind eine gemeinsame Sichtweise zu schaffen, die ihre beiden Wirklichkeiten zu einer gemeinsamen werden lässt.“ Dem schließen sich Fragen an wie z.B. „Wie fühlt sich das an? Was würde das für Ihre Paarbeziehung bedeuten? Was würde Ihre Mutter, ihr Sohn, ihre Freundin usw. dazu sagen? Welche Veränderung würden sie feststellen?“

Alles was hier von mir gesagt ist, müsste natürlich auch die konkrete Sprache meiner Klientinnen und Klienten heruntergebrochen werden, damit ich verständlich und hilfreich bleibe. Im Konkreten wird sich der „Wert“ der Sichtweise auf konstruierte Wirklichkeit und wirkliche Wirklichkeit erweisen oder auch nicht.

Willi Oberheiden

 

Ein Gedanke zu „Konstruierte Wirklichkeit und wirkliche Wirklichkeit in der systemisch-therapeutischen Praxis“

  1. Sehr geehrter Herr Oberheiden,

    Respekt – ich ziehe imaginär meinen Hut vor Ihnen.

    Mit ihrem Text haben sie die (konstruierte) Wirklichkeit wunderbar beschrieben, sowie auch die Sicht darauf aus der Perspektive möglicher Kontrahenten.
    Ihrer Überlegung, dass eine Sichtveränderung bzw. Bewusstseinserweiterung nur gelingen kann, wenn sich Beteiligte dazu entscheiden, kann ich nur beipflichten.

    Herzliche Grüße E. W.

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